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Ich fing an, Geschichten von meiner Familie zu sammeln, als ich versuchte, die Kommunikationsbarriere zu überwinden. Man kann sagen, dass ich nicht sehr kontaktfreudig bin, aber ich kann zuhören und deshalb sprechen die Leute einfach mit mir. In Zukunft habe ich keine Probleme bemerkt und es war absolut unwichtig, welche Sprache ich spreche. Ich wurde ein Teil der Geschichte. Im Kontext dieser Arbeit bilden die Thementexte und Zeichnungen die letzte Stufe meiner künstlerischen Recherche. Sie sind auf der Website verfügbar und können aktualisiert und durch neue Geschichten und künstlerische Bilder ergänzt werden.

 

 

Eugeniy, 65 und Olga 65, Russland                                                                               23.03.2020

 

Die Folgen des Coronavirus für meine Familie, die in Russland wohnt, waren – bereits im Dezember 2019 – die ersten Infektionsfälle  von Menschen mit Coronavirus. Es gab einzeln Fälle in Russland und eine Verfolgung der Infektionskette. Die Ärzten rieten zu einer Quarantäne.

Meine Eltern leben in einer Wohnung in Moskau. Sie sind Senioren, arbeiten aber weiterhin für eine kleine private Baufirma. Mein Papa ist Architekt und ist als Bauaufseher tätig. Meine Mama arbeitet im Home-Office an Architektur- und Konstruktionszeichnungen.

Ich möchte Ihnen sagen, welche Probleme die Pandemie meinen Eltern gebracht hat. In Russland trat das Coronavirus zwei Wochen später als in Deutschland und 2,5 Monate später als in China auf, obwohl China eine lange gemeinsame Grenze zu Russland hat. Daher hat Russland sofort Maßnahmen zur Eindämmung des Virus ergriffen und die Bewegung der Bürger beider Länder in den Grenzgebieten eingeschränkt.

Nachdem die ersten Infektionsfälle in Russland aufgetreten waren, wurde ein Selbstisolationsregime (Quarantäne) eingeführt, wodurch man einen ganzen Monat lang von der Arbeit befreiе war. Die Firma, in der meine Eltern arbeiteten, wurde vorübergehend geschlossen. Es gab keine neuen Bauaufträge mehr. Das Unternehmen stand kurz vor der Pleite.

Zusätzlich fielen meine Eltern als Rentner in die ‚Risikogruppe‘ und durften nach den geltenden Regeln das Haus  nicht verlassen. Verwandte brachten ihnen Lebensmittel und unterstützende Medikamente. Sie wurden kontaktlos übergeben und in der Nähe der Wohnungstür zurückgelassen.

Die Arbeit meines Vaters gestaltet sich normalerweise so, dass er direkt vor Ort anwesend ist, da er den Bauprozess kontrollieren und die Arbeiter kontaktieren muss. Aufgrund der medizinischen Beschränkungen ist er derzeit nicht in der Lage, seine professionellen Pflichten zu erfüllen. Aufgrund seines Rentenalters wurde der Zwang der Selbstisolation über einen längeren Zeitraum verlängert als bei jüngeren Menschen. Papas Einkommen ging in dieser Zeit stark zurück.

Er erhielt gleichzeitig auch weniger medizinische Versorgung, da Moskau der am stärksten infizierte Ort in Russland ist und es nicht sicher ist, durch die Stadt zu reisen, selbst nicht zu medizinischen Einrichtungen. In dieser Zeit verschlechterten sich auch die chronischen Krankheiten. Er begann sich weniger zu bewegen. Das Gehen an die frische Luft wurde für gefährdete Personen in Russland verboten. Aufgrund dieser Situation ist mein Papa sicher, dass er nach dem Ende der Pandemie ganz aufhören muss zu arbeiten. Und in diesem Alter wird es angesichts der Angst der Arbeitgeber, Menschen im fortgeschrittenen Alter einzustellen, fast unmöglich sein, anderswo eine neue Stelle zu finden. Viele arbeitende Rentner Russlands befinden sich in dieser Situation. Darüber hinaus hilft die hohe Qualifikation, wie die meines Vaters und vieler anderer berufstätiger Rentner, nicht.

In der Zeit der Selbstisolation litt auch meine Mutter. Sie arbeitete von zu Hause aus. Sie war für die Prüfung und Vereinbarung von Architektur- und Konstruktionszeichnungen auf Anweisung der Leitung zuständig. Während der Pandemie wurden die Bauarbeiten in Moskau und der Region Moskau unterbrochen. Bestellungen für neue Einrichtungen wurden eingestellt. Gleichzeitig hörte die Arbeit meiner Mutter auf, auch im Home-Office. Derzeit wurde die Arbeit nicht wieder aufgenommen. Dies wird so lange dauern, bis das Unternehmen neue Aufträge erhält, wenn es in dieser Zeit nicht pleitegeht.

Das Schließen der Grenzen zwischen Deutschland und Russland verursachte ein Kommunikationsproblem zwischen meinen Eltern und mir und der Familie meiner älteren Schwester, die ebenfalls in Deutschland lebt. Jetzt tauschen sich Großvater und Großmutter nur noch telefonisch mit ihren Enkelkindern aus. Solche Kontakte sind begrenzt. Es ist schwierig,  einem kleinen Kind zu erklären, warum dies geschieht. Es möchte direkte Kommunikation. Beide Seiten leiden. Es ist klar, dass solche Probleme nicht nur in unserer Familie, sondern auch in anderen zu beobachten sind.

Ich habe das Gespräch mit meinen Eltern als Interview geführt und es war sehr bitter, so offen zu hören, wie schlecht ihnen geht. Sie haben immer mich unterstützt, aber die Wahrheit ist, dass sie es nun nicht mehr können. Ich habe meine Eltern gemalt und ich dachte die ganze Zeit daran, wie ich ihnen helfen kann. Es war zwar nur ein Probegespräch, aber es war das härteste Gespräch für mich.

 

Lena, 31, Russland                                                                                                           24.03.2020

 

Ich erhielt einen Anruf von meiner Freundin Lena aus Moskau. In einem Gespräch mit mir erzählte sie, dass sie sich vor der Selbstisolierung mit der Gestaltung von Plakaten, Anzeigen, Broschüren und Handzetteln beschäftigt habe. Sie erhielt einen kleinen Geldbetrag, aber sie hatte genug zum Leben. Sie führte ein normales Leben. Sie zog ein Kind groß, allein. Das Kind ging in den Kindergarten. Sie  hatte sich von ihrem Mann scheiden lassen.

Jetzt ist sie sehr verängstigt. Es gibt keine Plakate mehr, denn es gibt keine Menschen auf der Straße und niemanden, der sie sich ansieht. In meinem Kopf gibt es nur einen Gedanken: Mir geht bald das Geld aus. Mein Ex-Mann ist nicht hilfreich, weil er arbeitslos ist. Sein Geschäft läuft nicht gut. Der Unterhalt ist miserabel. Die Lebensmittel, die ich vor der Selbstisolierung im Laden gekauft hatte, gingen schnell zur Neige. Das größte Problem ist, dass das Kind ständig um Obst und Joghurt bittet und nicht darum, sie zu kaufen. Ich versuche, nicht in Quarantäne zu gehen. Ich kaufe jeweils für zwei Wochen im Laden ein. Es ist, als ob wir hungrig sterben werden. Ich bitte das Kind, nichts mit den Händen zu berühren, aber es ist nutzlos, man kann ihm nicht erklären, was ein Virus ist.

Es ist schwer, jede Minute mit seinem Sohn zusammen zu sein. Neben dem Spielen muss man ständig einkaufen gehen und kochen. Man sagt, dass Kinder die Krankheit besser vertragenn. Aber ich kümmere mich nicht um Statistiken, wenn es um mein Kind geht. Und der ständige Gedanke in meinem Kopf: Was ist, wenn er krank wird? Und wenn ich krank werde? Was ist, wenn ich sterbe? Jemand könnte sagen: „Sie sind eine schlechte Mutter, da Sie die Freude der Quarantäne bei Kindern nicht spüren.“ Aber es gibt nichts, worüber man sich freuen kann. Ich weiß nicht, wie ich dafür bezahlen soll oder was ich als nächstes tun soll.

Was tun, wenn es keine Arbeit gibt – als Verkäuferin arbeiten? Es ist schwierig für eine Mutter mit einem Kind, das in den Kindergarten geht. Der Sohn ist oft krank und es gibt niemanden, der bei ihm ist. Mädchen haben ihr eigenes Leben und man kann sich nicht auf seine Mutter verlassen. Sie ist alt und hat eine ganze Reihe von Krankheiten. Jetzt bin ich auf der Suche nach einer Teilzeitstelle. Wenn die Quarantäne nicht in einem Monat endet, bekomme ich Geldprobleme. Eigentlich warte ich darauf, zu sehen, ob die Quarantäne weitergeht, vielleicht werden sie die Kreditzahlungen einfrieren, die Miete einfrieren und alle alleinerziehenden Mütter unterstützen.

Ich kann mir nicht vorstellen, wie es weitergehen wird: Ich habe kein Geld auf meinem Konto, keine reichen Verwandten, keine Ersparnisse. Nun denke ich, dass es gut wäre, schon im Voraus Menschen zu finden, die helfen können, falls es sehr schlimm werden sollte. Es ist gefährlich, in einer Stadt zur Arbeit zu gehen, in der man auch Gefahr läuft, eine tödliche Krankheit zu bekommen. Ich möchte schreien: „Leute, helft mir!“

 

Meine bekannte Ärztin aus Köln, erzählten mir von ihrem Kollegen und seiner Familie aus Italien.

 

Franko, 54, Italien                                                                               01.04.2020

 

Ich spreche zum ersten Mal mit einem italienischen Arzt, der die Corona-Pandemie live miterlebt hat. Das Gespräch verläuft erstaunlich einfach.

Sein Name ist Franko, er ist 54 Jahre alt, lebt in Livorno und ist Neurochirurg, Facharzt für Zahnheilkunde und Kieferchirurgie. Am 4. April stellte er seine medizinische Praxis unter Quarantäne. Am 5. April gab er gegenüber dem Zivilschutz die Erklärung ab, als Freiwilliger in die „Rote Zone“ zu gehen, da er Chirurg sei. Er erhielt einen sofortigen Rückruf und am 8. April war er bereits mit anderen Ärztekollegen in Rom. Insgesamt gab es 186 von ihnen. Von Rom aus wurde er zusammen mit zwanzig Kollegen in den Norden Italiens, nach Brescia geschickt, wo zu dieser Zeit COVID-19 wütete.

Er tat es aus Pflichtgefühl, um dem Staat zu helfen, schneller aus dieser Situation herauszukommen.

Er wurde in das Zentralkrankenhaus von Brescia (Ospedali riuniti di Brescia) überstellt. Es war eine sehr schwierige Situation und die Ärzte arbeiteten hart. Nach spezieller Einweisung, Vorbereitung und Unterzeichnung entsprechender Dokumente durften die Ärzte die Patienten behandeln. Während der Arbeit mussten sie zwei Anzüge tragen, einen leichten mit kurzen Ärmeln und einen anderen, der oben vollständig mit wasserdichtem Stoff bedeckt war. Es war sehr schwer, darin zu atmen,  die Luft war heiß, die Temperatur betrug 20–25 Grad. Es war anstrengend, darin zu arbeiten, aber dies waren notwendige Vorsichtsmaßnahmen. Die Arbeit mit einem Patienten lief wie folgt ab: Zuerst fand eine telefonische Befragung statt, bei der herausgefunden werden musste, wo dieser sich die letzten 48–72 Stunden aufgehalten und mit wem er in dieser Zeit Kontakt gehabt hatte. Im Krankenhaus wurden die Hände und der Mund des Patienten mit einer speziellen Lösung desinfiziert, sein Gesicht wurde verändert und er kam auf das Krankenhausgelände. Wenn eine Zahnbehandlung notwendig war, gab es eine Behandlung. Schwerkranke Patienten wurden an anderer Stelle behandelt und auf die Intensivstation geschickt.

Alle anderen Bewohner der Stadt und der Region erhielten medizinische Versorgung nur in dem Notfall-Krankenhaus, in dem Franko arbeitete. Alle medizinischen Organisationen in der Stadt waren zu diesem Zeitpunkt geschlossen.

Das ganze Krankenhaus war eine „Rote Zone“. Die Desinfektion wurde vor und nach der Schicht in einem Behandlungsintervall von 3–4 Stunden durchgeführt. Sie wurde von Militärärzten aus Russland vorgenomment. Alle Ärzte fühlten sich für das Leben und die Gesundheit der Patienten verantwortlich. Ärzte, Krankenschwestern und Betreuer waren zu diesem Zeitpunkt ein Team. Die Arbeitsschicht dauerte 6–8 Stunden, aber diese Zeit verging schnell.

Nach der Schicht mussten alle Ärzte nach Hause gehen oder in ein Hotel. Spaziergänge waren nicht erlaubt. Die Kommunikation war verboten, jeder blieb in seinem Zimmer. Das Essen wurde direkt in den Raum gebracht. „Franko erinnert sich:”Wir ruhten uns 6 bis 12 Stunden im Raum aus, sprachen mit Familie und Freunden am Telefon. Wir sahen fern”.

Während der Geschäftsreise wurden zwei Ärzte dieses Teams trotz aller Vorsichtsmaßnahmen mit dem Coronavirus infiziert. Bei einem von ihnen verlief die Krankheit asymptomatisch, der andere lag drei Wochen lang in einem Krankenhaus in Rom und hatte Fieber von 38,5 °C bis 38,8 °C. Er erholte sich.

Während der Geschäftsreise schufen Franko und seine Freunde Gruppen auf WhatsApp und auf Facebook. Dort tauschten sie neue Informationen aus, nach jedem wie der Arbeitstag verlief. Dieser Austausch war sehr wertvoll, es war professionelle Kommunikation. Heute noch stehen sie in ständigem Kontakt.

Er ist stolz auf seine Frau und Tochter, die in den für Italien schwierigen Zeiten systemrelevanten Aktivitäten ausübten. Er bat seine Familie, auch mit mir zu sprechen. Er beschrieb alles sehr sachlich und trotz seiner Höflichkeit erlaub er es mir nicht, zu nah an seine Gefühle zu kommen. Er sagt selbst, er sei ein Arzt und müsse auf Distanz bleiben.

 

Tatiana, 44, Italien                                                                              01.04.2020

 

Während Franko im Rettungsdienst war, war seine Frau Tatjana ehrenamtlich tätig. Sie ging zu älteren Menschen und half ihnen zu Hause. Sie kochte Essen, reinigte die Wohnung und kaufte Lebensmittel ein. Oder sie sprach einfach mit ihnen über verschiedene Themen, um sie aufzumuntern.

Tatiana besitzt ein Hobby: Sie ist eine lizenzierte Jägerin. Sie geht oft mit Franco in die Berge und jagt dort. Sie bringt Jagdtrophäen nach Hause. Während der Quarantänezeit war all dies nicht erlaubt. Das hat Tatiana sehr verärgert. Aber sie half sich da heraus. Sie fand etwas anderes zu tun. Sie näht gut, also beschloss sie, den Ärzten zu helfen, und begann, Schutzanzüge für sie zu nähen. Jetzt näht Tatiana Anzüge für medizinische Einrichtungen. Gleichzeitig freut sie sich sehr auf die Abschaffung der Quarantänemaßnahmen, um wieder ihrem Hobby, der Jagd, nachgehen zu können.

Sie spricht sehr herzlich, aber nicht über ihre Gefühle. Sie ist sehr besorgt  um ihre Tochter.

Milana, 23, Italien                                                                              01.04.2020

Ihre Tochter Milana arbeitet für ein Unternehmen, das Waren online liefert. Ihr zufolge hat die Arbeitsbelastung während der Zeit der Selbstisolierung um ein Mehrfaches zugenommen. Die Länge des Arbeitstages erreichte 12–14 Stunden pro Tag. Anders konnten die Waren nicht rechtzeitig geliefert werden.

Wir müssen mit Masken und Handschuhen arbeiten. Der direkte Kontakt mit Menschen ist verboten. Vor der Arbeit erfolgt eine obligatorische Prüfung der Temperatur und Behandlung der Hände durch Sanitärarbeiter. Wir fahren Sie auf der Straße nur mit speziellen Pässen. Es gibt überhaupt keine freie Zeit. Niemand denkt daran, in Bars, Diskotheken, ins Kino oder Theater zu gehen. All dies ist bis zu einer Sonderbestellung geschlossen.

Milana ist sehr emotional, offen und fragte mich viel über das Leben in Deutschland aus. Sie wollte in Mai nach Deutschland reisen, nach Berlin, aber nun ist das ausgeschlossen. Wie verabredeten, dass sie nach Berlin kommt, wenn es wieder erlaubt ist, und wollen einander treffen. In diesem Interview habe ich mehr geredet als Milana. Ich bin selbst erstaunt was ich ihr alles erzähle.

 

Marina, 31, Russland                                                                              26.03.2020

Wir hatten einen Urlaub mit den Kindern geplant. Zum ersten Mal haben wir sehr früh einen Reiseplan erstellt, um Moskau im Mai zu verlassen. Weil das ältere Kind saisonale Allergien hat, ist es für diese Zeit sehr notwendig ist, dorthin zu gehen, wo es nicht so viele nblühende allergene Pflanzen gibt. Zu unserem großen Bedauern schlug unser Plan jedoch fehl. Wir befinden uns in der Isolation. Kinder können einen langen Aufenthalt zu Hause kaum ertragen, ohne zu Fuß oder im Freien zu spielen. Sie müssen Energie verbrauchen, rennen und springen. In einer Stadtwohnung ist das schwierig. Und wir Eltern sind gezwungen, von zu Hause aus zu arbeiten und können Kindern nicht genug Aufmerksamkeit schenken. Aus diesem Grund entsteht ein Gefühl von Schuld und Irritation. Neben der Einschränkung der motorischen Aktivität leiden wir unter einem Mangel an lebhafter Kommunikation. Wir haben zwei Kinder und sie können zusammenspielen. In Familien, in denen das Kind allein ist, ist es sicherlich noch schwieriger. Eltern werden wütend auf die Kinder, weil sie sie mit ihren Schreien, Anfragen und Fragen ständig ablenken. Aber die Eltern verstehen, dass ihre Kinder noch klein sind und viel Aufmerksamkeit und Sorgfalt benötigen. Und deshalb sind sie wütend auf sich selbst, dass sie nicht alles so organisieren können, dass sie überall pünktlich sind.

Mit Magdalena hatte ich schriftlichen Kontakt

 

Magdalena, 36, Deutschland                                                                19.03.2020

Hallo Anastasia, vielen Dank für Ihren Anruf. Leider konnte ich den Anruf nicht entgegennehmen, da ich mich mit den Kindern beschäftigt habe. Nun habe ich Zeit, um Ihnen meine Geschichte zu erzählen.

Ich heiße Magdalena, bin 36 Jahre alt. Ich bin eine Friseurin und komme aus Gdynia in Polen. Seit 16 Jahren wohne ich mit meinem Mann in Berlin. Mein Mann ist Hausmeister und arbeite bei einer Hausverwaltung.

Ich habe in Polen Bürokauffrau gelernt, aber ich wollte eben Friseurin sein. Meine Eltern haben das aber nicht erlaubt. Und als ich geheiratet habe und wir nach Deutschland ausgewandert sind, habe ich Friseur gelernt. Eigentlich sind sie die erste, die sich für meine Geschichte interessieren. Normalerweise sind wir Friseure für alle Leute da, um unter anderem ihre Geschichte zu hören.

Ohne Corona hätte ich sie in meinen Salon mitgenommen, in den Salon, wo ich arbeite. Da hätten sie so viele Lebensgeschichten von Menschen hören können. Nun ist die Zeit anders und ich arbeite jetzt zurzeit nicht. Ich bin zum Glück in Elternzeit und darf noch meine Kinderbetreuung machen; noch ein Jahr bleibe ich zu Hause. Meine Kinder sind drei Jahre und acht Monate alt. Ich habe einen Sohn und ein Mädchen. Corona hat unser Leben total verändert. Am Anfang, im Dezember, habe ich angefangen, mit meinen Mädchen in eine Baby-Krabbelgruppe  zu gehen. Es war erst mal sehr schön, aber dann, im Februar, haben wir zum ersten Mal gespürt, dass es vielleicht mit der Gruppe doch nicht weitergeht ich habe Angst gehabt, weil ganz viele Leute aus der Gruppe viel gereicht haben und ich dachte, sie können Corona in unserer Krabbelgruppe mitbringen.

Dann wurde die Gruppe komplett eingestellt und ich habe nicht gewusst, was ich mit meinem Kind mache. Mein Sohn geht auch nicht mehr in den Kindergarten, weil der Kindergarten geschlossen wurde. Das ist eine große Herausforderung mit den beiden Kindern zu Hause ich habe jetzt immer einen Plan, wann ich was mache, wann ich aufstehe, wann ich essen. Bereite waren wir spazieren gehen, waren wir schlafen und waren wir baden. Ich habe noch nie in meinem Leben nach einem Plan gelebt, ich habe immer alles spontan gemacht und nun muss ich mich strukturieren. Das ist natürlich gut, denn ich habe das dank Corona gelernt, aber so eine Lehre möchte ich nicht mehr mitmachen, die ist sehr bitter. Nun können wir niemanden treffen, die Kinder werden wild und sie möchten zu Spielplätzen gehen – wir gehen aber nicht hin, auch wenn ab und zu die Spielplätze offen haben, habe ich richtig Angst, dass die Kinder sich anstecken.

Wir können nicht mehr in die Bibliothek, wo wir uns immer die Bücher ausgeliehen haben. Nun gehe ich durch die Straßen und sehe nach ‚Zu-verschenken-Boxen‘ mit Kinderliteratur, sammele die ein und desinfiziere sie zu Hause. Es war richtig schlimm, diese Zeit und ich hoffe, dass die Lockerungen bald kommen, dann können wir wenigstens eine Freundin aus der Krabbelgruppe treffen. Und dann habe ich noch eine Familie, mit der wir viel gemeinsam unternehmen. Wir gehen mit denen im Park spazieren, wenn es wieder erlaubt ist. So, dieses Corona hat mir viele Kinderbeschäftigung genommen; ich hoffe, dass die Kinder dann auch richtig aufwachsen.

Ich habe meinem älteren Sohn schon beigebracht, Abstand zu halten, aber ich hoffe, dass er keine Angst von Menschen weiterhin hat, wenn das alles vorbei ist. Die Kleine, die kennt das noch nicht, was ich mit dem Sohn gemacht habe. Sie wird jetzt langsam ins Spielplatz-Alter reinkommen, aber wir können nicht zum Spielplatz. Das schlimmste ist aber die Arbeit. Ich hoffe, dass unser Salon das überlebt und ich wieder anfangen kann. Ich hoffe auch, dass mein Mann nicht mehr in die Kurzarbeit kommt. Er arbeitet jetzt zu 50 % in Kurzarbeit und das ist sehr praktisch für die Familien. Wir können uns jetzt nicht mehr das leisten, was wir uns vorher geleistet haben. Und die Großeltern von mir und von meinem Mann wohnen in Polen; wir können sie nicht besuchen. Ich habe große Hoffnungen, dass das was Sie mir sagen, dass ich Kinderbücher anbiete und mit denen was male, das wird helfen. Aber das soziale Leben ist nicht ersetzbar. Die Kinder brauchen Kinder. Uns ging es schon vor der Corona-Zeit nicht so gut, aber jetzt kein Date und richtig schlecht. Ich bin aber optimistisch. Ich versuche den Kindern das Beste zu zeigen, was es denn in diesen Zeiten zu zeigen gibt. Ich mache viel mit denen, nur dass die anderen Kinder nicht dabei sind.

 

Mit Julia hatte ich schriftlichen Kontakt

 

Julia, Deutschland                                                                               24.03.2020

 

Hallo Anastasia, hier ist Julia und meine Geschichte.

Ich komme aus dem Osten der Slowakei; da bin ich aufgewachsen und vor fünf Jahren bin ich nach Berlin gekommen. Jetzt bin ich eine Studentin in Brandenburg und wohne in Marzahn in Berlin. Ich habe mich sehr gefreut, als Sie mich angesprochen haben, als ich fotografiert habe. Meine Geschichte ist so: Ich fotografiere gerne analog – mit den alten Kameras mache ich Bilder.

Die Kamera habe ich vor mehr als 20 Jahren in Bratislava gekauft. Die Kamera funktioniert noch und das freut mich sehr, obwohl ich fast jeden Tag irgendwas fotografiere. Ich entwickle nicht alle Bilder, nur die die mir am besten gelungen sind. Ich mag keine digitale Welt, deswegen fotografiere ich immer noch auf Film. Natürlich bin ich kein Profifotograf. Aber meine Bilder bringen mir Freude und meine Freunde sagen das auch, dass sie sich sehr gerne damit beschäftigen, wenn ich die Bilder verschicke. Ich mache auch Postkarten mit meinen Bildern. Und das freut mich sehr. In den Corona-Zeiten konnte ich nicht so viel fotografieren, weil ich nicht so oft draußen war. Aber ich glaube, ich bin auf die Corona-Zeit gut vorbereitet worden.

Im Dezember, kurz vor Weihnachten, habe ich eine Nähmaschine gefunden. Sie stand draußen vor der Haustür und da stand „Zum Mitnehmen“ drauf. Ich habe mir die Nähmaschine genommen, obwohl ich zum letzten Mal in der Schule genäht habe. Aber ich dachte, das ist sehr praktisch, die Nähmaschine zu Hause zu haben. Wenn man irgendwas schnell erledigen muss, kann man das auch selbst machen und Geld sparen. Und als Student hat man einfach nicht so viel Geld. Die Nähmaschine funktioniert ja sogar. Ich habe mir noch Nadeln und Garn gekauft. Aber am Anfang, im Dezember, habe ich mich nicht mit der Nähmaschine beschäftigt. Ich habe keine Zeit gehabt. Dann war ich noch zu Hause bei meinen Eltern und die Nähmaschine stand hier. Dann bin ich  aus der Slowakei zurück nach Berlin gefahren. Ich habe noch Glück gehabt, dass ich das Ganze vor der Zeit als die Grenze geschlossen wurde gemacht habe, sonst wäre ich in der Slowakei geblieben.

Als die Geschichte mit dem Corona losging, habe ich gedacht, ich kann Masken selber nähen. Ich mach das nicht für das Geld, ich habe das erst einmal für meine Nachbarn gemacht. Ich habe meine alten T-Shirts und die Kleider, die ich nicht mehr anziehe, ausgekocht, auseinandergeschnitten und daraus Masken gemacht. Ich habe insgesamt 50 Stück produziert. Die habe ich in einen Karton gesteckt und vor der Haustür bei uns hingestellt und „Zum Verschenken“ darauf geschrieben. Und was habe ich danach gesehen? Alle meine Nachbarn haben die Masken genommen und jetzt sehe ich ab und zu meine Nachbarn in meinen Masken spazieren gehen. Ich brauche kein Dankeschön, ich habe mich nur gefreut, dass ich was Gutes für die Leute machen kann. Deswegen denke ich mir, diese Nähmaschine stand nicht umsonst da, sie hat einfach auf mich gewartet.

In den Corona-Zeiten kann ich meine Freunde nicht treffen. Ich habe mir immer vorgenommen, wenn ich mit meinem Studium die Sachen erledigt habe, habe ich mir vorgenommen, Masken zu nähen. So nähe ich jetzt auch wieder und werde sie wieder rausstellen bei den anderen Blocks. Vielleicht brauchen da die Leute auch Hilfe, die sich nicht selbst eine Maske nähen können oder die sie nicht kaufen können. Als ich mit den Masken angefangen habe, da gab’s noch keine Masken so zu kaufen und ich habe Glück gehabt, dass ich eine schnelle Anleitung im Internet gefunden habe und konnte das noch selber erledigen. Meine Masken sind natürlich nicht perfekt, aber sie erfüllen ihren Zweck. Meine Nähmaschine habe ich für Sie fotografiert, ich hoffe, dass Sie das verwenden können. Ausnahmsweise habe ich das auf dem Handy fotografiert. Die anderen Bilder für Sie schicke ich Ihnen per Post und natürlich eine Maske für Sie. Bleiben Sie gesund viele Grüße.

Obdachloser, Deutschland                                                                              29.03.2020

Ich sitze in der S-Bahn mit meiner Schwester und wir fahren zum Zoo. In der S-Bahn sind wir die einzigen Passagiere zu dieser Zeit. An der Station Friedrichstraße steigt ein Obdachloser ein und läuft direkt zu uns. Er hat ein Exemplar vom „Straßenfeger“ vor sich und fängt an, mit uns mit einem starken russischen Akzent zu sprechen. Er trägt eine Maske, die sehr verschmutzt ist. Er bittet uns, ein Exemplar der Obdachlosen-Zeitung zu kaufen und sieht an, dass meine Schwester ein russisches Buch in ihren Händen hält.

Sofort fängt er an, mit uns Russisch zu reden. Er fragt uns, ob wir in Berlin wohnen oder gestrandet sind und nicht mehr nach Russland können. Um das Gespräch zu beenden, kaufen wir eine Zeitung von ihm und versuchen wegzugehen. Dann sagte uns, dass er eigentlich vorher Physiklehrer war, bevor er obdachlos geworden ist. Dann habe ich gedacht, das ist eine Chance für mich, mit diesem Menschen zu sprechen, über mein Projekt zu sprechen. Ich habe mich bis dahin nie mit einem Obdachlosen unterhalten. Er erzählt uns, dass er schon seit fünfzig Jahren obdachlos ist und in Berlin wohnt. Vorher war er Physiklehrer in Potsdam. Leider hat er ein Alkoholproblem bekommen und konnte nicht mehr unterrichten. Dann hat er seine Stelle verloren dann konnte er die Wohnung nicht bezahlen und er weiß eigentlich selber nicht mehr, wie er obdachlos geworden ist.

Jetzt in der COVID-19-Krise fühlt man es am meisten, ich kann nicht zu Hause bleiben, er kann nicht so die Unterkunft gehen, hat einfach nur Angst. Ehrlich gesagt habe ich auch Angst, aber Apple benimmt sich freundlich und hält Abstand. Das hat er bestimmt auch gemerkt, dass ich immer auf den Boden kucke und schaue, ob genug Distanz zwischen uns ist. Dann sagt er, dass als Physiklehrer hat er dir über, Abstand sehr gut schätzen. Er sage mir, Ethanol in seinen Augen drinnen ist, sodass er die Entfernung sehr gut einschätzen kann. Ich erzähle ihm kurz über das Projekt und frage, ob er mehr über seine Geschichte erzählen kann. Er sagt, er habe keine Geschichte, er habe schon alles erzählt, dass das interessanteste für immer in seinem Leben ist, dass er einfach so viel erlebt hat und  nicht weiß, wie alles mit ihm passiert ist. Jetzt trinkt er nicht mehr. Deswegen darf er diese Zeitung verkaufen. Er fragt mich auch, ob ich diese Zeitung gelesen habe. Ich antworte mit ja. Er glaubt mir aber nicht und sagt: „Würden Sie mir die Zeitung bitte zurückgeben?“ Ich frage: „Wieso?“

Er sagt: „Menschen wir Sie würden die Zeitung nie lesen?“ Ich bin enttäuscht von der ganze Situation und sage: „Wie können Sie das so einschätzen, dass ich das nicht lese?“ Und er sagt: „Niemand liest diese Zeitung, die Leute kaufen sie nur so und werfen sie weg.“ Ich versuche freundlich zu bleiben, obwohl ich immer noch Angst vor ihm habe und sage, dass ich die Zeitung lesen werde. Und es ist meine feste Überzeugung, dass ich das tue und ich verspreche mir mehr innerlich, die Zeitung durchzulesen, obwohl ich wirklich nicht wusste, ob ich sie lesen würde oder nicht. Dann sagt er mir, dass er bereit wäre, wenn wir ihm einen Kaffee kaufen, seine Geschichte weiter zu erzählen. Wir tun das. Das haben wir schon am Zoo Bahnhof gemacht. Er sagt plötzlich, dass er vor allem  seine Frau und seine Kinder sehen möchte, aber er sie nicht so oft in Potsdam. Seine Frau hat sich von ihm getrennt und ist zusammen mit den Kindern in eine andere Wohnung umgezogen und er ist alleine geblieben hat weiter getrunken und konnte sein Leben nicht mehr kontrollieren. Einmal im Jahr fährt er nach Potsdam und läuft zu dem Haus, wo seine Frau mit den Kindern gewohnt habe. Sie ist noch einmal umgezogen und er weiß nicht wohin. Die Kinder sind auch schon groß und wohnen allein, er weiß aber auch nicht wo. Er hofft, dass er sie irgendwann in der S-Bahn sieht, aber das hat noch nicht geklappt.

Er sagt während der Corona-Zeit erkennt er sie nicht, nicht nur, weil sie sich verändert haben, auch weil sie bestimmt eine Maske tragen. Dann zeigt er uns ein Buch, dass er immer dabeihat – ein Physikheft mit Formeln. Dann schaut er plötzlich zur Seite und sagt, dass er gehen muss. Und so verschwindet er im S-Bahnhofsgebäude.

Ich schau mir die Zeitung an und sehe, dass sie auf Dezember 2017 datiert ist.

Dann gehe ich ins Internet und lese, dass die Straßenfeger-Zeitung eingestellt ist. Nun sollen die Obdachlosen den „Karuna-Kompass“ verteilen. Nun verstehe ich, warum er die Zeitung zurückhaben wollte.

So entdeckte ich den „Karuna-Kompass“ in Zeiten von Corona.

         

Alina, 43, Russland                                                                               14.04.2020

Laut Alina müssen viele Reiseführer in dieser Situation dringend "überleben", wie sie sagt: "...Zuerst gab es Verleugnung, Depression, sogar ein wenig Verzweiflung... aber sie beschloss, nicht zu verzweifeln und zu gehen... Als Kurier zu arbeiten, erstens, diesen Job schmerzlos aufzugeben, wenn die Touren wieder aufgenommen werden, zweitens war es eine Entscheidung an der Oberfläche. Und natürlich war schon damals klar, dass dieses Werk sowohl in der Quarantäne als auch in der Zeit der sozialen Distanz existieren würde. Sie haben keine Ahnung, sagte sie, wie schwer es war, nicht wegen der Arbeit, sondern wegen des Mangels an Ihrem Lieblingswerk, den Touren! Es gibt eine solche Eigenschaft in einem Menschen, wir verstehen nicht, wie wichtig das ist, was wir haben, bis wir es verlieren. "Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie schlecht ich mich ohne meine Touristen gefühlt habe, ohne die Städte, ohne den Bus und die flackernde Aussicht vor dem Fenster...", sagte sie zu mir. Jetzt, wo sie während der Fahrt die Ware vom Lieferservice bekam, weinte sie die ganze Zeit, die Tränen waren nicht aufzuhalten. Sie hatte das Gefühl, ihr Leben sei vorbei... Aber da kam ihr die Idee!!! Ihre Idee war es, in ihren sozialen Netzwerken von den interessanten Orten zu erzählen, die sie auf ihre Weise kennen gelernt hat. Sie machte Fotos von ihrem Auto aus, während sie sich bewegte. Viele Ideen kamen auf, es gibt auch viele Bilder". Auf diese Weise versuchte sie, mit dieser stressigen Situation fertig zu werden und sie zu überwinden.

 

Ich möchte herausfinden, wo die Grenze liegt, die Menschen nach ihrem sozialen Status in der Gesellschaft, der kulturellen Entwicklung, trennt.

Ein Unbekannter und ich                                                               16.04.2020

Es ist ein sehr sonniger Tag ich bin zur Spreeufer auf die Halbinsel Stralau gelaufen. Hier werde ich versuchen, einen Kontakt mit neuen Teilnehmern zu bekommen.

Ich weiß noch nicht, wer er ist und wohin diese Geschichte mich führtt. Ein bisschen Angst habe ich, wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich große Angst.

Ich bin mit meiner Begleitung zur Sicherheit hier aber wir laufen nicht zusammen, damit nicht zu sehen ist, dass ich nicht allein bin.

Am Ufer sitzt ein junger Mann und hält eine Flasche Bier in der Hand. Ich setze mich bewusst mit zwei Meter Abstand zu ihm, obwohl es ist noch viel Platz am Ufer gibt an diesem Morgen. Meine Begleitung setzt sich auch ans Ufer, aber ungefähr zwanzig Meter von uns entfernt.

  • „Was willst du?“, fragt mich der junge Mann. 

  • „Hast Keinen anderen Platz gefunden oder will du mich anmachen?“

  • „Nein“, sage ich ganz laut, was eine ungewöhnliche Lautstärke für mich ist, aber ich möchte meine Angst vom Fremden verstecken. 

  • „Was willst du dann?“

Ich versuche ihn zu erklären das ist eine Künstlerin bin und er fragt mich, ob ich hier in der Nähe wohne, ich sage wieder nein. Er scheint gelangweilt zu sein und lässt mich mit ihm reden. Ich erzähle von meinem Projekt und frage, ob ich ihn zeichnen darf und ob er mehr von sich erzählen würde.

Ich sage auch, dass er mich, wenn er möchte, auch malen und Dinge fragen kann und ich zeige ihm, dass ich auch ein Blatt Papier und Stifte dabeihabe. 

Er guckt mich verblüfft an und sagt: „Du brauchst nichts erzählen und ich kann nicht malen und meine Geschichte erzähle dir hier auch nicht. Ich erzähle dir lieber deine Geschichte.

Du bist Mitte 20, bist nach Berlin gekommen, aus Polen denke ich mir. Du bist… Du bist vielleicht Musikerin, hast ganz lange Finger. Spielst du Klavier? Du bist aber alleine hier und du weiß nicht, was du eigentlich willst. Was ich hier sehe ist, dass du vielleicht nicht dein Leben lebst. Du hast viele Sorgen. Du hast kein Geld. Du rauchst nicht. Du bist sehr dünn, aber du bist nicht krank. Und du möchtest jetzt hier nicht mit mir reden, du musst es aber. Aber ich muss nicht mit dir reden. Willst du Bier? 

Wenn ich malen könnte, hätte ich dir das alles gemalt und dann wärst du weggerannt und du hast Angst von mir und jetzt kannst du nicht dein Gesicht unter der Maske verstecken.

Du darfst malen, aber nicht meine Hände.“

Ich schaue mir seine Hände an. Sie sind an vielen Stellen zugeklebt mit einem Pflaster. Er möchte aber auch sehen was ich gemalt habe. Dann schweigt er and guckt mich an. Ich schweige auch, ich habe aber Angst, dass er viel in meinem Gesicht lesen kanne. Es ist egal, dass er mein Alter falsch geschätzt hat. Mit Polen hat er nicht ganz Unrecht gehabt.

Ich zeichne ihn ruhig und frage, ob es für ihn immer noch in Ordnung ist, dass ich so lange auf ihn schaue. 

Er sagt, dass ich verrückt bin. Meine Hände zittern, die Linien sind nicht so, wie ich ses gewohnt bin. Ich versuche, mich auf das Zeichen zu konzentrieren, auf das Künstlerische und dann wird mir ein bisschen leichter. Ich habe aber trotzdem tierisch Angst. Wird er mich jetzt schlagen? Wird er mir meinen Rucksack stehlen? Wird er das Papier aus meinen Händen reißen? Wird er nichts tun? Dann fragt er mich, ob ich fertig bin. Ich mache noch ein paar Striche und bin fertig. Ich zeige ihm sein Portrait. Ich beobachte sein Gesicht. Er freut sich, seine Augen sind nicht mehr so böse und glanzlos. Er fragt mich, ob er das Bild haben darf. Ich fotografiere das Bild ab und sage ihm, dass er es haben darf. Ich überreiche ihm das Blatt, meine Hände zittern immer noch. Er fragt mich: „Hast du Angst von mir?“ Ich sage: „Nein.“

Natürlich habe ich Angst von ihm, aber was soll ich sagen. Er sagt, wenn du keine Angst vor mir hast, dann gib mir deine Handynummer und ich ruf dich an und erzähle dir meine Geschichte. Dann fasse ich meinen Mut zusammen und schreibe ihm die Telefonnummer auf das Bild, meine richtige Telefonnummer. Diese Nummer kennen nur meine Familie, meine Freunde und meine Bekannten. Und jetzt hat diese Nummer ein Mensch, dem ich vor einer halben Stunde begegnet bin. Ich weiß nicht, wie er heißt. Er nimmt sein Handy heraus und ruft mich an, mein Telefon klingelt und er legt auf. Ich bin wütend auf mich, aber dafür ist es zu spät. „Na gut“, sagt mein neuer unbekannter Bekannter, „dann rufe ich dich an. Du musst nicht so viel Angst haben. Ich habe auch einen Namen. Ich habe auch einen Beruf gelernt. Ich war ein Schlosser. Aber ich wurde entlassen als sich rausgestellt hat, dass ich drogenabhängig bin. Ich habe meine Mutter versprochen, dass ich ins Krankenhaus gehe. Ich werdee es vielleicht auch irgendwann tun.“ Er bedankt sich für das Bild und sagt mir „Leb wohl“ und geht. Dann plötzlich dreht er sich um und sagt: „Du bist aber nicht alleine hier. Du bist mit jemanden gekommen, entweder mit diesem Mann oder mit dieser Frau und dann zeigt er in Richtung meiner Begleitung. Ihr seid ziemlich gleichzeitig zum Ufer gekommen und du hast Angst.“ Das war für mich die Situation, in der sich das künstlerische Experiment und die Realität vermischt haben. Aber es gibt jetzt keinen Weg mehr zurück. Ich habe meine Telefonnummer rausgegeben. Das mache ich sonst nie. Ich habe es nie gemacht bis zum diesen Tag. Jetzt hat ein Unbekannter, der auch einen Namen hat, meine Telefonnummer. Er kann mich jederzeit anrufen, ich bin ungeschützt. Er könnte sehen, wo ich mich befinde, wenn er es wollte. Aber ich werde auf diesen Anruf warten. Ich hole mir eine neue Nummer, aber die alte behalte ich nur für diesen Anruf. Vielleicht wird er aber auch nicht anrufen, vielleicht war ich  auch für ihn ein Experiment. Aber sein Porträt hat er mitgenommen. Das war auch ein Stück von mir und das habe ich gemalt und ihm überreicht. Er hat jetzt eine sehr persönliche Sache von mir. Ich fühle mich sehr unwohl. Das war aber ein wichtiger Schritt für mich, denn ich weiß jetzt, dass ich über meinen Schatten springen kann. Und ich denke an Bulgakow. Sein Roman „Master und Margarita“ beginnt mit den Worten: „Sprechen sie nie mit Fremden.“

Die letzte hier vorgestellte Geschichte wurde mir per Telefon übermittelt

Dominique, Deutschland                                                                               24.03.2020

Ich heiße Dominique, komme aus Frankreich und ich wohne in Berlin. Seit dem 1. März 2020 bin ich arbeitslos. Ich bin Kellner von Beruf und arbeitete in einem Restaurant im Prenzlauer Berg. Mein Chef ist nach Kanada ausgewandert, hat sein Restaurant geschlossen und seit Corona habe ich keine Arbeit mehr. So bin ich ein sehr untypischer Kellner, da ich meinen Job im März nicht wegen Corona verloren habe. Mein Chef hat keinen Nachfolger gefunden und hat sein Geschäft einfach geschlossen.

Dann kam die ganze Corona-Geschichte auf. Ich habe die Hoffnung verloren, dass ich in absehbarer Zeit einen Job finden kann. Ich habe mich natürlich arbeitslos gemeldet und nun erhalte ich soziale Hilfe. Ich bin aber nicht so ein Mensch, der einfach Geld bekommt und nichts macht.

Als unser Restaurant geschlossen wurde, hat mein Chef allen Mitarbeitern verschiedene Gegenstände aus dem Lokal geschenkt. Da ich zu Hause einen Hund habe, habe ich für mich Desinfektionsmittel genommen, damit ich bei mir zu Hause besser putzen kann. Das haben wir in Lokal benutzt, um die Küche zu putzen. Und da das niemand mehr brauchte, habe ich nun sechs Flaschen Desinfektionsmittel bei mir zu Hause. Ich wohne in einem Haus, in dem viele ältere Leute wohnen. Nun habe ich beschlossen, zusätzlich zur Reinigung, die unsere Hausverwaltung durchführt, die Geländer von dem Haus jeden Tag zu desinfizieren. Ich habe noch genug Desinfektionsmittel und das mache ich jeden Tag am Abend, sodass am Morgen wieder alles sauber und desinfiziert ist. Ich desinfiziere auch die Türklinken, das Geländer und die Briefkästen. Ich habe bei meinen Nachbarn geklingelt und gefragt, ob sie eine Einkaufshilfe brauchen. Da ich einen Hund habe, gehe ich sowieso spazieren und kann dann für die Nachbarn die Einkäufe erledigen, für die Senioren. Das funktioniert super. Jeden Tag sammle ich in meinem Block Zettel von den Leuten. Darauf notieren sie mir, was sie brauchen und dann gehe ich einkaufen und bringe die Tüten mit den Belegen mit und schreibe mir auf, für wenn ich was eingekauft habe. Manche Leute geben mir Geld und sagen, dass ich den Rest behalten soll. Das mache ich aber nicht und wenn ich das mache, dann kaufe ich Putzmaterial für mich. Die anderen Familien fragen mich, ob ich von der Bank Überweisungszettel mitbringen kann. Die soll ich ausfüllen und ihnen geben und dann schicken Sie mir das Geld per Banküberweisung. Bis jetzt habe ich immer mein Geld rechtzeitig bekommen und die Leute freuen sich. Und ich freue mich auch. Und mein Hund freut sich ganz besonders, weil ich so lange mit ihm spazieren gehe. Ich bin am Tag sechs bis sieben Mal unterwegs.

Ich möchte weiterhin in der Gastronomie arbeiten, aber jetzt einen Job da zu finden, ist nicht möglich. So helfe ich der Gesellschaft so wie ich kann.

Und Sie haben mich gefragt, warum ich in einem Späti eine Flasche Wodka und Katzenfutter gekauft habe, obwohl ich einen Hund dabeihabe?

Mit Wodka nehme von einem Freund von mir Abschied. Er ist nicht gestorben, aber unsere Freundschaft hat geendet. Er wohnt in Potsdam, ich habe ihn seit Sylvester nicht mehr gesehen. Gestern hat er mich angerufen, beziehungsweise für eine „Corona-Schnaps-Bier-Schnaps-Staffel“ nominiert, und sagte, dass er Corona gehabt habe, ohne große Symptome. Und er ist einfach weiter herumlaufen! Ich wollte nicht mehr mit ihm reden. In meiner Heimat in Paris dürfen die Menschen nur in einem Radius von einem Kilometer herumlaufen, nur zum Einkaufen! Und er macht solche Sachen! Unfassbar! Und das Katzenfutter hatte ich vergessen, für eine Nachbarin einzukaufen. Das kriegt sie nun als Geschenk. Bleiben Sie gesund!

Ich habe auch erfahren, wie Menschen mich wahrnehmen. In unseren Gesprächen haben sie mir mitgeteilt, wie ich auf sie wirke und was sie über mich denken. Das haben sie entweder von sich aus aktiv oder auf meine Nachfrage hin erzählt.

Sie fanden meinen Namen schön. Nicht die Abkürzung - Nastja- sondern den kompletten Name - Anastasia. 

Sie haben mir gesagt, dass ich in Wirklichkeit nicht so schüchtern bin wie ich am Anfang wirke. Sie haben sich sehr im künstlerischen Prozess engagiert und wollten sehen, wie ich sie male. Die Malarbeiten, die Portraits kamen in allen Fällen sehr gut an.

Ich denke, es ist schwierig für die Künstler zu wissen wie ihre Arbeiten beim Publikum ankommen. Hier war mein Publikum selbst auch ein Kunstobjekt. Und das ist noch schwieriger. Sie waren froh, dass es so gut gelungen ist. 

Sie haben auch gesagt, dass mein Akzent ein Merkmal von mir ist. Viele haben gesagt, dass sie meinen Akzent sehr schön finden. Das war für mich neu, weil ich mich für meinen Akzent geschämt habe – jetzt nicht mehr. 

Sie haben mir gesagt, dass ich aus einer anderen Welt komme. Sie haben Angst gehabt, dass ich sie nicht verstehe. Viele haben sich für mein Verständnis bedankt und dafür, dass ich so offen für ihre Geschichten war. Sie haben mir auch gesagt, dass sie sich vorstellen können mit mir befreundet zu sein. Das haben zwei Menschen gesagt. Das hat mich sehr berührt.

Sie haben auch gesagt, dass ich sehr ehrlich bin. Und direkt. Obwohl ich mir weder als direkt noch als ehrlich vorkomme. Ich habe immer versucht höflich zu sein. Und meine Menschen haben mich als direkt und höflich bezeichnet. Sie konnten meine Ängste spüren. Das haben sie mir auch gesagt. Sie konnten viel von meinem Gesicht ablesen. Sie konnten sehen, wann genau ich unsicher war und haben das angesprochen. Diese Erfahrung war auch für sie neu, weil ich mich so überrascht fühlte als sie mich so direkt und mit klaren Worten angesprochen haben. Sie haben mir gesagt, dass in “meiner Welt” die Leute nicht über die Tatsachen reden. Einmal wurde mir gesagt, dass ich so rede als ob ich aus einem Buch vorlese. Das kommt zum Teil von der Art und Weise wie in meiner Familie geredet wurde - mit den vollständigen Sätzen. 

Sie haben mir gesagt, dass ich gut malen kann, und dass das für eine Grafikerin ein Kompliment ist.

Am Ende unseres Gespräches habe ich immer gefragt, ob mein Opponent auch so ein Projekt durchführen würde, und mit den Menschen sprechen würde. Die Antwort war immer die gleiche: Sie haben gesagt, dass sie das nicht machen würden und dass sie nie darüber nachgedacht haben. Es liegt nicht daran, dass viele von meinen Menschen nicht malen können. Es liegt daran, dass meine Menschen sich nicht sicher gefühlt hätten. Da waren wir uns wieder ähnlich mit unserem Unsicherheitsgefühl.

Am Ende jedes Gesprächs habe ich meine Menschen gebeten mich mit drei Worten zu beschreiben und die habe ich immer aufgeschrieben für meine Selbstreflektionsarbeiten. Hier liste ich alle Worte auf: schüchtern, kommunikativ, kann zuhören, sagt nicht viel, kann malen, hübsch, attraktiv, lustig, traurig, klein, dünn, interessant, geduldig, nicht langweilig, langweilig, stark, witzig, nicht arrogant, hat Geschmack, höflich, du bist die Russin oder Usbekin oder?, herzlich, geschlossen, traurig, sehr witzig, intelligent, nicht eine von uns, wie eine von uns, genau so wie ich, jung.

Diese Eindrücke sind sehr verschieden. Manche stehen sogar im Kontrast zu einander, manche haben Tiefe, manche sind sehr oberflächlich. Ich denke sie sind so, weil ich vielfältig bin, und weil sie Momentaufnahmen waren.

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